Sauerteig und daraus resultierende Backwaren gelten als besonders gut bekömmlich. Mehr noch, sie zeichnen sich durch wenig Backhilfsmittel aus, die in der industriellen Brotherstellung gang und gäbe sind. Mit anderen Worten: Der Sauerteig entspricht dem heutigen Trend zu weniger Chemie und mehr Natur. Der Clou: Bis auf das Mehl ist er kostenlos zu haben. Die Helfer warten gewissermaßen überall darauf, ihre Arbeit zu verrichten. Nur ein wenig Geduld gehört dazu.
Milchsäurebakterien
Die Rede ist von einer Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus Milchsäurebakterien und Hefen, die sich beim Stehenlassen von Mehl-Wasser-Mischungen von selbst einfinden und mit ihren Enzymen verschiedene Mehlbestandteile abbauen. Dabei entstehen unter anderem Milchsäure, Essigsäure, Proteine, Alkohol und Kohlendioxid und letztendlich spätestens beim Backen auch Aromastoffe. Durch die "Pflege" der Starterkulturen lassen sich die Ergebnisse immer weiter optimieren. Die enzymatischen, als Fermentation bezeichneten Prozesse erzeugen eine pH-Absenkung und machen Lebensmittel unattraktiv für andere Mikroorganismen und damit länger haltbar. Sie lassen sich mit unterschiedlichen Bakterien- und Hefekulturen auf viele andere Lebensmittel übertragen und so entstehen schmackhafte Obst- und Gemüsesäfte, Milchprodukte wie Joghurt und Kefir. Klassiker sind Sauerkraut, Apfel- und Weinessig – und nicht zu vergessen das Bier und die Veredelung von Traubensäften zu Wein.
Energiearme Küche
Aus technischer Sicht sind Fermentationen attraktiv, da sie wenig oder gar keine Energie benötigen. Darüber hinaus ist der Aufwand an Geräten minimal, so dass Fermentationen in ihrer Vielfalt ohne weiteres in der Hobbyküche betrieben werden können. Kimchi, Kombucha, Kōji, Natto, Salgam und Kwas lassen grüßen. Enzyme arbeiten wie die Katalysatoren in der Chemie. Bevor chemische Reaktionen ins Laufen kommen, muss erst einmal eine gewisse Startenergie zur Verfügung gestellt werden. Mit Katalysatoren wird diese Aktivierungsenergie erheblich gesenkt, und genauso verhält es sich mit den Bio-Katalysatoren. Bestehend aus Peptiden, die sich durch die Verknüpfung von Aminosäuren bilden, sind sie vermutlich die Vorläufer des Lebens in der Evolution gewesen. Nach der Einverleibung in die ersten Mikroorganismen arbeiteten die Enzyme gemeinschaftlich Hand in Hand. Spätere große Organismen sind bis heute nur dadurch lebensfähig, indem sie wiederum auf die Kleinarbeit der Mikroorganismen und ihrer Enzyme zurückgreifen. Das gilt auch für die Menschen. Ohne die Mikrobiome in der Verdauung und auf der Haut geht gar nichts. Darüber hinaus deuten Organisationseinheiten in den großen Organismen darauf hin, dass sie aus der Einbürgerung früherer Mikroorganismen stammen.
Überzogene Körperhygiene
Spätestens hier zeigt sich, dass die heutigen Vorstellungen in der Körperhygiene vielfach überzogen und kontraproduktiv sind. Insbesondere das Hautmikrobiom wird ständig attackiert, sei es mit dem täglichen Duschbad inklusive porentiefer Reinigung mit Tensiden oder mit der vermeintlichen guten Hautpflege, die hohe Dosierungen an Konservierungsstoffen, Antioxidantien und Komplexbildnern beinhaltet. Dabei wird das effektive Selbstreinigungsprogramm der Haut völlig ignoriert. In vielen Fällen ermöglicht überhaupt erst das intakte Hautmikrobiom die Resorption von Pflegestoffen, indem es mit seinen Enzymen zum Beispiel große Moleküle zerlegt. Das Hautmikrobiom beherrscht durch seine Vielfalt an Mikroorganismen praktisch alle chemischen Reaktionstypen, zu denen Enzyme fähig sind und die an anderer Stelle beschrieben sind.1
Superfood für die Hautflora?
Sogenannte Superfoods enthalten essentielle Fettsäuren, Vitamine, Spurenelemente, Aminosäuren, Proteine und vieles andere mehr. Ihnen werden unterschwellig besondere Eigenschaften, z. T. heilende und Anti-Aging-Wirkungen zugeschrieben – auch im Falle probiotischer Komponenten. Theorie und Wirklichkeit, insbesondere was die Sanierung der Darmflora betrifft, klaffen jedoch häufig auseinander. Nichtsdestotrotz wurde schlussgefolgert, dass dieses Prinzip auch für das Hautmikrobiom hilfreich ist. Dementsprechend wurden im Hinblick auf die Erfahrungen mit Masken aus Joghurt, Quark und Gurke probiotische Präparate entwickelt, hauptsächlich basierend auf Milchsäure-Bakterien-Kulturen – vergleichbar mit den Sauerteig-Ansätzen aus der Tüte. So kommen z. B. bei gestörtem Scheidenmilieu therapiebegleitend Probiotika zum Einsatz, die Milchsäure und Milchsäurebakterien freisetzen sowie den pH-Wert von circa 4 stabilisieren. Es wird davon berichtet, dass Defensine stimuliert werden; dabei handelt es sich um epidermale antimikrobielle Peptide (AMP). Ansonsten verfügen probiotische Präparate neben der Anwendung in Masken eher über eine begrenzte Leistung.
Präbiotische Kosmetika
Analog den Überlegungen zur ballastreichen Nahrung für den Darm entstanden präbiotische Produkte, deren Aufgabe es ist, die Hautflora zu unterstützen, indem sie der Nahrung für bestimmte Keime dienen. Was sich in der Werbung als fortschrittlich und einfach darstellt, ist in der Praxis jedoch recht kompliziert. Denn der Artenreichtum des Mikrobioms ist immens und es ist praktisch aussichtslos, die guten von den bösen Organismen zu unterscheiden – abgesehen davon, dass jede Spezies im Netzwerk Aufgaben hat, von denen wir bisher so gut wie keine Kenntnis haben. Das gilt selbst für die fakultativ pathogenen Arten, die immer präsent sind, aber bei einem "gesunden" Gleichgewicht der Populationen keine Probleme machen. Präbiotische Komponenten sind in der INCI nicht zu erkennen. Die Information erschöpft sich in der Regel auf dem Etikett mit Hinweisen wie "präbiotisch wirksam". Nachvollziehbare Belege dafür sind Mangelware. Nicht nur bei Kosmetika, sondern auch bei Medizinprodukten steht die Zusammensetzung mitunter im Widerspruch zur vorgegebenen Kompatibilität mit dem Mikrobiom.
Enzymsubstrate
Eine gute Arbeitshypothese besteht darin, dass Inhaltsstoffe, die physiologisch mit der Epidermis harmonieren, sich auch gut mit dem Mikrobiom vertragen. Denn beide, die Epidermis und ihr Mikrobiom, sind seit Urzeiten ein eingespieltes Team. Dementsprechend ist es entscheidend, die wohlbekannten kontraproduktiven Stoffe nicht einzusetzen. Ergänzend eignen sich Enzymsubstrate, bestehend beispielsweise aus natürlichen Triglyceriden oder essenziellen Fettsäuren, besonders gut zur Pflege von Haut und Flora.2
Fermentation auf der Haut
Zum Schluss noch der Hinweis, dass mit Enzympeelings praktisch eine direkte Fermentation der Hautoberfläche stattfindet. Dabei sind Esterasen von Bedeutung, die Fette spalten, und Proteasen, die Peptidbindungen abgestorbener Zellen lösen. Übrigens: Wer einmal Kartoffeln ohne Handschuhe gerieben hat, kann die fermentative Wirkung pflanzlicher Esterasen auch hautnah in der Küche erleben.
Literatur
1) Kooperation ist alles, Medical by Beauty Forum 2022 (6), 9-1 2) Mikrobiom und Hautentzündungen, Beauty Forum medical 2019 (4), 24-25
Dr. Hans Lautenschläger
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